Islands wilde Seele durch die Augen von Anne Siegel. Fesselnde Geschichten ihres brandneuen Buches „Wo Islands wilde Seele wohnt“ – bei einem Leseabend in Berlin eingefangen – entführen in eine Welt abseits der Klischees, mitten ins Leben außergewöhnlicher Menschen. Inspirierende Porträts, skurrile Begegnungen und tiefgründige Einblicke – ein Muss für alle Island-Liebhaber und Freunde starker Erzählungen!
Ein Abend mit Anne Siegel: Geschichten, die fesseln
Ein besonderer Abend kann mit einem einzigartigen Bild beginnen: Anne Siegel fängt die Atmosphäre ein, fotografiert das Publikum von hinten und begrüßt alte Bekannte am Bücherstand mit herzlichen Umarmungen. Gleich am Eingang entsteht so ein lebendiges Miteinander. Ich habe mich derweil im hinteren Teil des Raumes positioniert, meinen Tisch zurechtgerückt, um gleichzeitig in meinen Laptop zu schreiben und das Geschehen aufmerksam zu verfolgen.



So beginnt die 910. Lesung für Anne Siegel: In einer wunderschönen Villa im Herzen Pankows, im Cafe Eden Doc 11, in dem „Pankebuch – Die „Buchhandlung für die schönsten Bücher des Nordens“ und Partnerbuchhandlung aller Nordischen Botschaften in Berlin, die die Lesung organisiert hat. Doch was danach folgt, ist alles andere als Routine.



Geschichten, die gelesen und erlebt werden
Anne Siegel erzählt Geschichten, die du nicht nur lesen, sondern dich mitfühlen und miterleben lassen. Keine trockenen Fakten, keine langatmigen Monologe, sondern lebendige Erlebnisse, die sich wie ein gut erzähltes Abenteuer entfalten. Sie füllt Lücken, die andere übersehen haben – zum Beispiel die Geschichte der deutschen Einwanderer-Frauen in ihrem Buch „Frauen-Fische-Fjorde“, die nach dem Krieg nach Island kamen und deren Leben bis dahin kaum erzählt wurde.
Eine Autorin, die ihr Publikum wahrnimmt
Anne ist keine Autorin, die starr am Tisch sitzend aus ihrem Buch vorträgt. Sie wechselt vom Stuhl in den Stand, lebendig gestikulierend, und der Blick ins Publikum verrät: Sie nimmt alles wahr. Als sie zwei Frauen im Publikum beim Stricken entdeckt, lacht sie und meint: „Ich fühle mich wie in Island!“ Ein Gedanke, der die Stimmung des Abends perfekt einfängt.

Island – Land der Geschichten und Extreme
Island ist nicht nur Kulisse für Annes Erzählungen, sondern auch Inspiration. Ihre Geschichten reichen von skurrilen Momenten wie sechs strickenden Punks in einer Kneipe in Flateyri oder der Besuch im Schafsmuseum im Steingrímsfjörður in den Westfjorden, wo Anne etwas über Anführer-Schafe erfährt und ihre Nase an einen Strick halten kann, der standesgemäß nach Bock riecht.
Nachdenkliche Betrachtungen
Sie erzählt über Influencer, die Einsamkeit in einer Basalt-Nische inszenieren, während ihre überforderten Freunde Bilder schießen müssen. Wer ist Tourist, wer ist Reisender? Was ist mit den Menschen, die Einsamkeit suggerieren, aber der bloßen Bucketlist nachfahren? Sie erinnert an den Piloten Haraldur Diego, der mit seinem Flugzeug Influencer über den Þingvallavatn flog und wahrscheinlichen beim kurzen Touch-and-Go, das für spektakuläre Fotos sorgen sollte, ins Eis einbrach und alle vier Insassen starben. Was sind eigentlich die Grenzen?
Die Sexbesessenheit der Eiderenten
Anne spricht auch über die Sexbesessenheit von Eiderenten vor ihrem Fenster – eine Eiderfrau sagte ihr, dass sie wegen ihr da seien, sie mögen Menschen. Und es geht um Kraftorte und über die Herausforderungen des Lebens in einem Land, das oft rau und unberechenbar ist.
Die Mentalität der Inselbewohner
„Wenn sich uns Isländern etwas in den Weg stellt, wollen wir es wegschaffen,“ zitiert Anne einen Satz, der so typisch für die Mentalität der Inselbewohner ist. Geschichten von Lawinen, endlosen Schneelandschaften und überraschenden Wendungen zeichnen ein Bild von einem Land, das nie stillsteht und in dem sich Berufsbiografien ebenso schnell ändern wie das Wetter.
Das Ende des Abends: Buchsignierung
Der Abend findet seinen krönenden Abschluss mit einer Buchsignierung, und auch ich reihe mich geduldig in die Schlange ein. Anne begrüßt jeden mit herzlichen Worten und stellt persönliche Nachfragen, die ihre echte Wertschätzung und Interesse an den Lesern spüren lassen.

Eine Reise in die Tiefe
Anne Siegel nimmt sich Zeit für ihre Geschichten. Ihre Recherche ist gründlich, ihre Gespräche tiefgehend. Acht Stunden kann sie mit einer Person sprechen, um wirklich in deren Geschichte einzutauchen. Sie verbindet sich mit den Emotionen ihrer Interviewpartner und lässt diese beim Schreiben wieder aufleben. Nach den Hintergründen ihres Schreibprozesses gefragt, sagt sie „Die Geschichte ist da, ich schreibe sie nur auf – bei Romanen allerdings nur die ganz grobe Struktur“.
Aber wie sieht dein Schreibprozess aus, möchte ich wissen. Hast du feste Rituale oder eine bestimmte Herangehensweise? „Jeden Tag drei Seiten kann ich nicht, sagt sie. Vorarbeit ist viel, bis der Sound für ein neues Buch und Struktur da sind. Dann freie Zeit, dann vier Wochen Island, dann wird geschrieben.“
Sie macht sich eine „Musikliste, um die Struktur des Buches zu schaffen: Und wenn die Struktur steht, ziehe ich mich zurück, manchmal für Wochen. Manchmal schreibe ich die ganze Nacht durch, weil ich nicht aufhören kann,“ sagt sie im Interview bei Pankebuch, wo wir am nächsten Mittag verabredet sind.
Ich frage sie, wer Greta ist, der sie ihr Buch gewidmet hat. Sie erzählt mir von ihr als isländischer Filmemacherfreundin und Produzentin, die in New York lebt, die sie 1998 auf der Berlinale kennengelernt hat, die ihr einige Türen in Island öffnete.
Ein Blick auf das kommende Buchprojekt
Am nächsten Tag bin ich mit Anne bei Pankebuch zum Interview verabredet. Hier genießen wir zunächst mit den beiden Buchhändlerinnen die wohligen Sonnenstrahlen und erzählen uns die schöne Dinge.



Ein Wehrmutstropfen ist allerdings dabei, Pankebuch sucht eine gute Nachfolge für ihren liebsten Buchladen mit den schönsten Büchern des Nordens. Wenn ich euer Interesse geweckt habe, dann tretet mit den Buchhändlerinnen in Kontakt.
Hier vom Sofa aus, auf dem wir uns zwischen Unmengen schönster Bücher des Nordens niedergelassen haben und uns von Petra Wenzel, eine der Buchhändlerinnen, erfrischendes Wasser mit Zitrone und Minze gereicht wird, erzählt Anne nicht nur über ihr brandneues Buch, sondern auch ein wenig über ihr kommendes Buchprojekt, an dem sie seit sechs Jahren arbeitet.


Foto: Petra Wenzel / Pankebuch
Es wird ein dramatisches Thema behandeln, soviel verrät Anne. Sechs Jahre schreiben ist ungewöhnlich sagt sie, die sie sonst schnell schreibt. Ihr neuestes Buch habe von der Idee, dem Schreiben bis zur Veröffentlichung zwei Jahre und viel gemeinsame Planung mit ihrer Lektorin als auch Verlagsleiterin des Verlages Malik/Piper gebraucht.
Geschichten, die nicht erzählt werden konnten
Mich interessiert, ob es Geschichten gibt, die sie beeindruckt haben, aber nicht erzählt werden konnten? „Ja, viele“, sagt Anne. „Private Geschichten, die ich gehört habe, sind oft zu persönlich und es käme ihr wie Verrat vor, sie zu teilen. Doch sie dienen als Hintergrund, als Inspiration.“ Was sie an Island fasziniert? „Alles,“ sagt sie. „Die Natur, die Kultur, die Menschen. Orte wie Tungulending„. Ein Kraftort, der ihr besonders am Herzen liegt. Oder Erlebnisse wie die Fahrt über die Hochebene Holtavörðuheiði in einem Sommer-Schneesturm.
Was fasziniert Anne Siegel an Island und wer sind die Menschen in ihrem neuen Buch?
Anne Siegel hat eine Gabe: Sie nimmt ihre Zuhörer mit auf eine Reise – nicht nur nach Island, sondern auch in die Seelen der Menschen, die sie porträtiert. Ein Leseabend mit ihr ist kein trockenes Knäckebrot, sondern eine reiche, nahrhafte Mahlzeit für Geist und Seele. Annes neues Buch „Wo Islands wilde Seele wohnt“ lädt Leser dazu ein, die facettenreiche isländische Kultur durch die Augen außergewöhnlicher Persönlichkeiten zu entdecken. Hier ein kleiner Blick in die Geschichten einiger Menschen, die sie in ihrem Buch beschreibt.
Sigurður, der Ranger
Sigurður arbeitet im Hochland Islands und am Mývatn-See. Anne schildert ihr Interview mit ihm unter anderem in einem geothermischen Hotpot – einem Ort, der auch als Treffpunkt für Einheimische dient. Sigurður erzählt von seinen Erfahrungen mit Troll-Geschichten, seiner Zusammenarbeit mit der NASA in der Askja, wie er Touristen aus Furten hilft, die stecken geblieben sind, und von seinem Kraftort, einem Ort der Sehnsucht und Ruhe. Besonders rührend ist die Geschichte seiner Partnerin Regina, die nach zehn Jahren Pendeln von Deutschland zu ihm nach Island gezogen ist.
Vivian, die Schauspielerin
Vivian stammt aus Sauðárkrókur, einem „ehrlichen Ort im Norden“, wie sie sagt. Sie startete im „dreckigen Hollywood“ erst im zweiten Anlauf 20 Jahre nach ihrer Ausbildung dort durch und hält viele dort für verrückt. Sie beschreibt sich selbst als vermutlich die einzige alleinerziehende Mutter von vier Kindern „außer Angelina Jolie“, sagt Anne, in der Filmmetropole. Ihre Worte spiegeln den Kontrast zwischen der Beschaulichkeit ihrer Heimat und der Hektik ihres aktuellen Lebens wider. Vivian spielt die weibliche Hauptrolle in REYKJAVÍK 112, der Verfilmung des Yrsa-Sigurdardóttir-Romans DNA in der Huldar & Freyja-Serie. Sie ist darin eine Kinderpsychologin und die Serie läuft gerade auf Simmin in Island an, kommt aber (da deutsch-französische Co-Produktion) im Oktober auch auf ARTE raus.
Gudmundur Fertram Sigurjonsson
Der Unternehmer aus Ísafjörður hatte die visionäre Idee, Fischhaut zur Regeneration von geschädigtem Gewebe einzusetzen. Mit seinem Unternehmen Kerecis schuf er eine weltweite Erfolgsgeschichte. Heute gelten die innovativen Produkte aus Fischhaut als führend in der Wundbehandlung und werden international geschätzt.
Iris, die Designerin und Eiderentenbäuerin
Iris und ihre Partnerin sind in erster Linie Designerinnen, die durch Zufall ins Eiderbusiness kamen und nun beides verbinden. Eigentlich bringt der Verkauf der kostbaren Eiderdaunen mehr Gewinn als Kokain, wie sie augenzwinkernd erwähnt. Iris lebt tatsächlich nicht vom Verkauf der Daunen, sondern produziert mit ihrer Studio Erindrekar-Partnerin nur so viel, wie sie für ihre eigene Design-Firma benötigen. Ihre Geschichte zeigt, wie traditionelle Arbeit und modernes Unternehmertum in Island Hand in Hand gehen können.
Haraldur Thorleifson, der Steuerkönig
Haraldur, Gründer zahlreicher Firmen, der eine von ihnen an Twitter verkaufte und in der Folge mit Elon Musk aneinandergeriet, ist heute einer der größten Steuerzahler in Island. Er gründete unter anderem Ramp Up Iceland, ein Unternehmen, das bessere Bedingungen für Rollstuhlfahrer schafft. Er hatte unlängst einen Auftritt im deutschen Film Eine Million Minuten.


Ingibjörg, die Eisschwimmerin
Ingibjörg traf Anne in Flateyri. Von ihrer Begeisterung für das Eisschwimmen inspiriert, wagte es Anne, sich ins kalte Wasser zu stürzen.
Anne Siegel über sich selbst
Und dann schreibt Anne Siegel über Anne Siegel und wir erfahren unter anderem ihren Kraftort Tungulending. Ein abgelegener Ort nördlich von Húsavík. Mit Blick auf das Meer empfindet sie dort eine tiefe Verbundenheit zur Natur und Ruhe.
Weitere Porträts
Anne beschreibt zudem eine Malerin, eine Schafzüchterin aus den Westfjorden, einen Architekten sowie einen Biologen und Philosophen. Jede dieser Personen trägt seine eigene, besondere Perspektive auf Island bei.

Mehr als eine Autorin
Anne Siegel ist keine bloße Autorin; sie ist eine Brückenbauerin zwischen Welten, eine Chronistin des Unbeachteten und eine Verfechterin der kleinen, wilden Geschichten. Ihre Bücher sind nicht einfach nur Werke der Literatur – sie sind Expeditionen in die Tiefen der menschlichen Seele, unterlegt mit dem Rauschen des Nordatlantiks und dem Flüstern uralter Gletscher.
Ein Schrei gegen das Vergessen
Mit ihrer klaren Stimme, die gleichermaßen analytisch wie poetisch ist, navigiert sie durch Themen, die auf den ersten Blick unscheinbar wirken mögen, aber in ihrer Tiefe universelle Relevanz haben. Ob sie über die mutigen Frauen der isländischen Fischereiindustrie schreibt, die Kraft und Ausdauer beweisen, die selbst die Stürme des Ozeans überdauern, oder über die literarischen Schätze des Nordens, die die Kultur Islands wie stille Leuchttürme erhellen. Die Wahl ihrer Themen wirkt wie ein Schrei gegen das Vergessen. Siegel ist eine Sammlerin von Geschichten, die anderen entglitten wären. Doch wo andere in Nostalgie verharren, bringt sie Frische und Lebendigkeit ins Spiel. Mit einem Blick, der scharf wie die Gischt an den Klippen und zugleich warm wie die Geothermie Islands ist, verbindet sie historische Tiefe mit erzählerischem Schwung.
Eine Hommage an Island
Ihr neues Buch ist eine Hommage an die Menschen und die Orte, die Island zu einem so einzigartigen Land machen. Anne erzählt die Geschichten mit Nordwind im Herzen, mit Wärme und Respekt, sodass die Leser die besondere isländische Seele förmlich spüren können. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Unsichtbare sichtbar zu machen, was zwischen Fjorden und Vulkanen schlummert.
Persönlich strahlt sie eine Begeisterung aus, die ansteckend ist. Sie ist eine Frau, die in jeder Unterhaltung Funken entzündet, eine Gesprächspartnerin, die mit Leidenschaft, Wissen und einer unerschöpflichen Neugier überrascht.
Ein Treffen mit ihr ist wie ein stürmischer Spaziergang entlang eines Fjords: Klar, belebend und am Ende bleibt eine unauslöschliche Spur in der Seele – jedoch bleibt immer Raum für Spontaneität und Humor.
Vielen Dank, liebe Anne! Wir sehen uns, vielleicht in Island?

Alle Bücher von Anne Siegel könnt ihr direkt über ihre Webseite hier kaufen.

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